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Wir sitzen im Besucherraum der JVA. Mal wieder so eine Beweislage, bei der ich denke, da hilft nur noch die Flucht nach vorne. Aber der heroinabhängige Mandant, der zwei kleine Diebstähle zugibt, bestreitet die entscheidende Anklage wegen räuberischen Diebstahls. “Nein”, sagt er, “ich habe die Verkäuferin bei der Flucht nicht geschlagen – und schon gar nicht, um im Besitz der Beute zu bleiben. Die hab ich nämlich bei der Rangelei mit ihr verloren. Sie war oben in meiner Jacke und ist noch im Laden rausgefallen. Ich wollte nicht in den Knast und da bin ich abgehauen!” “Nach der Ermittlungsakte sieht das anders aus”, erwidere ich.  “Sowohl die Verkäuferin als auch eine Kundin behaupten, du hättest die Verkäuferin bewusst und fest in die Rippen geschlagen und dann mit der Faust ausgeholt, um ihr ins Gesicht zu schlagen. Das Ganze ist auch noch von der Überwachungskamera festgehalten worden. In dem Auswertungsbericht der Polizei steht, dass die Zeugenaussagen durch die Videoaufnahme eindeutig belegt sei.” Der Angeklagte kratzt sich am Kopf. “Das kann nicht stimmen! Ich stand allerdings so unter Entzug, dass ich mir heute auch nicht mehr ganz sicher bin, wie das damals abgelaufen ist.” Bei der Sachlage kann ich dem Angeklagten keine Hoffnungen auf Bewährung oder gar Haftverschonung im Hauptverhandlungstermin machen. Zu dick ist sein Vorstrafenregister. Ihm bleibt erfahrungsgemäß nur der Weg über den § 35 BtMG – Therapie statt Knast. Aber bis dahin wird es wohl noch einige Monate dauern.

In der Hauptverhandlung gebe ich für den Mandanten eine Erklärung ab. Er räumt die beiden Diebstähle ein und kann sich nicht mehr an die Sache mit der Verkäuferin erinnern, weil er zum damaligen Zeitpunkt unter starkem Entzug stand und zudem Benzodiazepam in rauen Mengen geschluckt hatte. Sollte er der Verkäufern weh getan haben, so tut ihm das ausgesprochen leid. Er wisse heute nur noch, dass er aus Angst vor seiner Verhaftung weggelaufen sei. An die Diebesbeute – ein paar Kosmetika – habe er bei seiner Flucht überhaupt nicht gedacht.

Die Richterin fragt mich, ob ich die Akte gelesen hätte. “Klar” sag ich, “aber ich kann nur wiedergeben, was mir mein Mandant erzählt hat und wenn wir schon ein wasserdichtes Beweismittel in Form eines Videomitschnitts haben, warum schauen wir es uns nicht einfach mal an?”

Gesagt getan. Zur großen Überraschung aller, sieht man auf dem Video ganz deutlich, wie sich der Angeklagte aus der “Umarmung der Verkäuferin” herausdreht, alle möglichen Kosmetika hierbei zu Boden fallen und der Angeklagte aus dem Bild rennt. Nach dem dritten Anschauen in Zeitlupe ist selbst die Staatsanwältin für einen kurzen Moment verunsichert.

Ich denke laut: “Tja, wie gut, dass wir mal ein vernünftiges Beweismittel zur Verfügung haben. Ohne Gewalt und ohne Beutesicherungsabsicht – kein räuberischer Diebstahl. Von mir aus können wir die Beweisaufnahme schließen.”

So sehen es auch die Vorsitzende und die Schöffen. Nur die Vertreterin der objektivsten Behörde der Welt, will selbst bei dieser Sachlage ihre Anklage mit allen Mitteln durchsetzen, obwohl sie genau weiß, dass sie sich dabei eine blutige Nase holen wird. Ich habe das noch nie verstanden. Warum in drei Teufels Namen sind (manche) Staatsanwälte oft so unflexibel wie ein Öltanker beim Bremsvorgang? Ist das vielleicht eine Einstellungsvoraussetzung für den Beruf des Staatsanwalts? (Natürlich quatsch und polemisch!)

In meinem Plädoyer verlange ich die Aufhebung des auf Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehls – ohne recht daran zu glauben. Schließlich ist die Vorsitzende dafür bekannt, dass sie Junkies in deren eigenem Interesse zur Therapie aus dem Knast heraus “verhelfen” will.

Wie sich bei der Urteilsverkündung zeigt, ist die Vorsitzende allerdings auch zurecht dafür bekannt, juristisch saubere Urteile und Beschlüsse zu fassen. Der Angeklagte wird wegen 3-fachen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von 8  Monaten verurteilt und der Haftbefehl wird aufgehoben – streng nach dem Gesetz: Nach § 112 a I Nr.2 StPO kann ein auf Wiederholungsgefahr gestützter Haftbefehl in den Fällen des Nr. 2 nur Bestand haben, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist.

Selbstverständlich werde ich gegen das Urteil Berufung einlegen – nicht weil ich mit dem Ergebnis unzufrieden bin oder weil ich das Gericht ärgern will – nein, um dem Angeklagten mehr Zeit zu verschaffen, sich um seine stationäre Therapie zu kümmern.

Im Hinausgehen denke ich an einen meiner alten Fälle zurück, bei dem es ebenfalls angeblich objektive, unwiderlegliche Beweismittel gegen meinen damaligen Mandanten gegeben haben soll. Drei Polizeibeamte hatten als Zeugen in der Hauptverhandlung felsenfest behauptet, den Angeklagten mit einer Aludecke zur Umgehung von Kaufhaussicherungsanlagen und einem Rucksack voller gestohlener Kleidungsstücke mit noch angetackerten Preisschildern erwischt zu haben. Ich weiß noch wie rot der Richter damals anlief, als ich den Beweisantrag stellte, die Beweisstücke aus der Asservatenkammer zu holen und wie blass er wurde, als die Asservate aus einem Aufbewahrungssack auf seinen Richtertisch gekippt wurden. Bei der angeblichen Aludecke handelte es sich um eine alte Baby-Wolldecke und an den angeblich gestohlenen Kleidungsstücken befand sich kein einziges Preisschild. Bei jedem anderen Zeugen, hätte die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Falschaussage eingeleitet; für die Polizeibeamten gab es damals vom Sitzungsvertreter der StA nur ein verwundertes Kopfschütteln. Ja, so funktioniert Gerechtigkeit manchmal.

Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach


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