Kleptomanin Selma

Selma ist 34 Jahre alt und verheiratet mit einem türkischen Landsmann. Beide waren noch Kinder, als sie mit ihren Familien aus der Türkei nach Deutschland zogen. Selma ist eine vorbildliche Mutter von 2 kleinen Kindern, führt ordentlich ihren Haushalt  und hat zwei Nebenjobs als Putzhilfe und Helferin in einem Altenpflegeheim. Da ihr Mann ebenso fleißig ist und als Produktionshelfer viele Überstunden leistet, geht es der Familie finanziell gut. Sie leben zurückgezogen in einem kleinen Eigenheim auf dem Land und sind dennoch in der türkischen Gemeinde gut integriert.

Der Mann legt Wert auf den Kontakt zu seiner Großfamilie, verabscheut aber die Familie von Selma. Heimlich telefoniert sie manchmal mit ihren betagten Mutter, die immer noch unter dem tyrannischen Vater leidet, und manchmal trifft sie sich mit ihren jüngeren  Geschwistern. Auch das wird von ihrem Ehemann nicht gerne gesehen.

Diese unspektakulären biographischen Daten kenne ich aus ihren vielen Strafakten und psychiatrischen Gutachten. Ansonsten weiß ich von Selma so gut wie nichts. In ihrer Verzweiflung ist sie schweigsam und verschlossen. Nur einmal ließ sie mich für einen kurzen Moment in ihre Seele blicken.

Wir saßen in meinem Büro, führten wieder mal ein stockendes Gespräch, und ich versuchte durch behutsame Fragen, die eigentlichen Ursache für ihre mittlerweile knastträchtigen Diebstähle zu ergründen. Meine Fragen kreisten immer wieder um ihre Kindheit, und für einen Augenblick  als ihre Selbstkontrolle bröckelte, trotzte ich ihr den Versuch einer Selbsterklärung ab. Zurückversetzt in ihre Kindheit schloss Selma die Augen und wie in Trance erinnerte sie sich. Ihre kleine Geschichte habe ich noch bildhaft vor Augen:

Der modrige Herbstgeruch weicht langsam der Winterkälte. Es ist dämmrig und feucht. Vom Hochhaus aus sieht man nur noch die kontrastarmen Umrisse von Bäumen und Büschen. Dazwischen die nun schwarzen Balken des Klettergerüsts und vielleicht die Schaukelketten, aber dazu ist es eigentlich zu dunkel. Wer hier lebt, könnte wissen, dass da unten auf dem Spielplatz nur noch Selma und ihre kleineren Geschwister warten, aber es interessiert niemanden. Der einsetzende Nachtwind wirbelt die Kinderstimmen gegen die Hauswände bis hinauf in die obersten Stockwerke. Aber um diese Jahreszeit sind die Fenster geschlossen. Denkt man die Kinder hinweg, herrscht verlassene Ruhe.

Die Kinder sind hungrig und müde. Endlich öffnet sich im 5. Stock ein Fenster. Der Vater pfeift, und die Kinder rennen zum Eingang – die 5 Treppen hinauf. Der Aufzug ist kaputt. Mit ihren ausgezogenen Schuhen in der Hand stehen sie nun schweigend vor der geschlossenen Wohnungstüre. Einmal müssen sie den Lichtschalter im Treppenhaus drücken ehe die Mutter sie hereinlässt. Sie schleichen in die Küche, vorbei am Wohnzimmer, wo der Vater vorm Fernseher sitzt und stürzen sich auf das Essen. Schweigend tauschen sie verstohlene Blicke. Der Vater will seine Ruhe und erst Jahre später wird Selama sich fragen, warum er sie und die Geschwister in die Welt gebracht hat.

Nach der Schule ist es Selmas Aufgabe, sich um die Kleinen zu kümmern, aber heute hilft ihr die Mutter, die Geschwister ins Bett zu bringen. Nie wird Selma die zarten Hände der Mutter vergessen, die ihr abends das lange zerzauste Haar kämmten, und nie den Streit der Eltern, den sie von ihren Betten aus hörten.

Die Mutter ist schwach, und seit ihrem 12. Lebensjahr spürt Selma immer mehr die auf ihr lastende Verantwortung, auch für den Vater, den sie trotz allem liebt, und der auch nicht aus seiner Haut kann. Auch für ihn spürt sie zeitlebens Verantwortung. So hat sie es gelernt.

Um die Geschwister zu entschädigen, beginnt sie Spielzeug und Süßigkeiten aus den umliegenden Geschäften zu stehlen, und das ist auch ein süßer Trost für sie.

Mit 18 heiratet Selma und bekommt schnell zwei Kinder. Sie will es besser machen als ihre Eltern. Vielleicht hat sie gehofft, der Verantwortung zu entfliehen, sie einzutauschen gegen eine andere, bessere. Aber es funktioniert nicht. Nun hat sie zwei “Verantwortungen”, mit denen sie schnell in Konflikt gerät. Mit niemandem kann sie darüber reden. Gegenüber jeder Seite hat sie ein schlechtes Gewissen, keiner Seite kann sie gerecht werden – so jedenfalls empfindet sie es. Wenn der familiäre Druck zu groß wird, überkommt Selma dieser unbeschreibliche Drang. Sie steht im Kaufhaus und kann ihm nicht widerstehen. Obwohl sie genug Geld dabei hat, fängt sie an, sich wahllos Dinge in die Taschen zu stecken: Tischtennisbälle, Vogelfutter oder Zigaretten, die sie nicht raucht; einfach irgendetwas, um dieses schreckliche Gefühl loszuwerden.

Bei diesen letzten Sätzen öffnet Selma die Augen, und obwohl ich eine weitaus schlimmere Geschichte erwartet hätte, kullern Tränen aus ihren dunklen Augen. Dann verstummt sie ganz und kein weiteres Wort ist aus ihr herauszuholen.

Am nächsten Tag ist ihre Hauptverhandlung. Die Richterin erörtert Selmas Vorstrafen, ihre drei laufenden Bewährungen und auch das bei der letzten Verurteilung von mir beantragte Sachverständigengutachten. Der Gutachter hatte keine Kleptomanie oder andere seelische Störung angenommen und sie für voll schuldfähig erklärt.

Diesmal sieht es schlecht aus für Selma, und sie weiß es. Zusammen mit der sehr engagierten Bewährungshelferin schaffen wir es schließlich doch, den sehr freundlichen Staatsanwalt und die Richterin von einer erneuten Bewährungsstrafe zu überzeugen. Währenddessen hat Selma ihre Haare vor´s Gesicht gezogen und sich so schief hingesetzt, dass sie mit dem Rücken zum Publikum sitzt. Es sieht aus, als wolle sie ihr Gesicht verstecken, und genau das versucht sie. Im Zuschauerraum sitzt eine Schulklasse, die das Geschehen aufmerksam verfolgt. Während die Bewährungshelferin nocheinmal die familiäre Situation der Angeklagten schildert, fragt Selma mich flüsternd nach türkischen Schülern im Zuschauerraum. Sie hat Angst von irgendjemanden aus der türkischen Gemeinde erkannt zu werden. Wenn ihr Mann herausbekäme, dass Selma eine Diebin ist, ginge es ihr schlecht.  Die Vorstrafen und die heutige Hauptverhandlung müssen geheim bleiben. Sie hat halt niemanden, mit dem sie reden kann.

Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach

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