Richter Bohnen: „Als junger Richter war ich ein richtiges Arschloch!“

Vor einigen Tagen traf ich ihn wieder. Die Hauptverhandlung sollte um 9 Uhr beginnen. Um 9.05 h fand ich endlich in einer Seitenstraße einen Parkplatz. Vom Beifahrersitz klaubte ich Portemonnaie, Handy, Tabak und Feuerzeug und steckte alles umständlich in meine Jackentaschen. Aus dem Kofferraum nahm ich Robe und Akte, schloss den Wagen ab und hatte schon den ignorierten Parkautomaten ganz am Ende der Straße passiert, als mir einfiel, dass ich meine Waffen vergessen hatte. Also rannte ich zum Wagen zurück, um meine Brille und einen Kugelschreiber aus dem Türfach zu holen. Da stand er plötzlich mit einem überraschten Gesichtsausdruck vor mir, weil ich ihn in meiner Hektik beinahe umgelaufen hätte.

„Guten Tag, Herr Meister! Was bin ich froh, dass ich diese Hetzerei hinter mir gelassen habe!“, sagte er und schüttelte mir fest die Hand.

„Richter Bohnen! Das ist aber schön, sie mal nach all den Jahren wieder zu sehen. Ich habe in den letzten Jahren immer mal wieder an Sie gedacht! Wie geht es Ihnen ohne die Justiz? Die Pensionierung scheint Ihnen gut zu tun!“

„Immer noch der alte Schmeichler, unser Herr Meister! Aber jetzt, wo Sie mir keinen 153a mehr abluchsen können, darf ich das wohl als Kompliment auffassen.“, dabei lächelte er mich mit diesem einmaligen, verschmitzten Richter-Bohnen-Lächeln an, dass mir warm ums Herz wurde. Das Alter hatte ihn leicht gebeugt, aber er schien immer noch der Alte zu sein.

„Um ehrlich zu sein, wenn einer behauptet, das Alter sei eine schöne Zeit, der lügt. Und mit Lügen kenne ich mich ja aus, wie Sie wissen! Nein, das Alter ist kein Zuckerschlecken!  Ich schlage mich so durch und mache gute Miene zu den fortschreitenden Zerfallserscheinungen. Wenn ich  eines Morgens aufwache und nichts tut mehr weh, dann bin ich tot. Aber ich bin sicher, sie spüren auch schon das eine oder andere Zipperlein!?“, sagte er – wieder mit diesem frechen Grinsen im Gesicht.

Ich legte meine Robe und Akte auf einem angrenzenden Mäuerchen ab. „Erzählen Sie, was machen Sie denn so den ganzen Tag mit ihrer vielen Freizeit? Bei Ihnen bin ich mir fast sicher, dass Sie vor lauter Hobbys nicht einmal Zeit finden, zum Friseur zu gehen.“

Der Richter gluckste und schlug mir freundschaftlich auf den Arm. „Wie immer, ganz schön respektlos. Sie haben Recht. Zum Friseur müsste ich tatsächlich mal wieder. Aber wen sollte das heute noch interessieren?“, sagte er munter und strich sich dabei durch sein dünner gewordenes, weißes Haar. „Ich fotografiere viel und gut– vor allem viel. Meine Kinder haben mir so eine neumodische Digitalkamera gekauft. Letzten Monat war ich in Berlin und habe alles fotografiert, was mir vor die Linse kam. Alleine vom Reichstag habe ich bestimmt tausend Fotos gemacht, die sich nie einer ansehen wird. Ich meine, wer sollte sich dafür interessieren? Meine Kinder bestimmt nicht. Die machen Fotos von ihren Kindern. Das ist interessant! 1000 Fotos. Verrückt!“, dabei tippte er sich an den Kopf.

„Mmmh, warum suchen Sie sich nicht die besten Fotos daraus zusammen und machen eine Ausstellung? Ich würde kommen, wenn Sie mich einladen!“

„Naja, ich denke darüber nach. Genug Zeit zum Denken habe ich ja jetzt!“, sagte er wieder mit diesem ironischen Unterton.

„Ich werde nie unsere kleine Unterhaltung vergessen, die wir vor vielen Jahren einmal in der Kantine geführt haben.“, sagte ich. „Ich war damals noch ganz frisch und hatte wahrscheinlich von Nichts eine Ahnung! Wir kamen aus einer gemeinsamen Verhandlung – hatten uns, glaube ich, ein wenig in den Haaren gehabt – und ich stand hinter Ihnen an der Kasse. Da haben Sie sich zu mir umgedreht und gesagt: Damals, als junger Richter, war ich ein richtiges Arschloch!“.

Richter Bohnen lachte in gespielter Empörung auf. „Das soll ich gesagt haben?“, prustete er los.

„Ja, genau das waren Ihre Worte. Das „Arschloch“ haben Sie mir allerdings ganz leise ins Ohr geflüstert, weil hinter uns noch Leute in der Schlange standen. Sie luden mich zu einem Kaffee ein und wir haben uns an einen etwas abseits gelegenen Tisch gesetzt. Und da erzählten Sie mir, dass Sie aus einem spießen Elternhaus kamen und mit der 60iger Bewegung nichts hätten anfangen konnten. Sie hätten all diese Hippies und etwa die grausame Musik der Rolling Stones als junger Mann einfach nicht verstanden. Selbst diese braven Beatles wären Ihnen verdächtig vorgekommen. In den 70igern wären Sie dann ein tumber, konservativer und gnadenloser Richter geworden, der es nicht geschafft habe, über den Tellerrand zu schauen – und dass Sie sich im Nachhinein heute noch dafür ohrfeigen könnten. Das haben Sie mir erzählt, und dann haben Sie mich genauso wie jetzt angeschaut und gesagt: ´Ich will Ihrem Mandanten doch gar nichts! Er soll nur aufhören so dumm zu lügen!` Und wissen Sie was? Für diese schonungslose, offene Selbstkritik bewundere ich Sie bis heute. Das hat mich damals schwer beeindruckt! Ich meine, fehlende Selbstkritik ist ja geradezu eine Berufskrankheit von z.B. Richtern und Lehrern, die es gewohnt sind, immer das letzte Wort zu haben!“.

Richter Bohnen schaute mich belustigt an. „Ja, so kann es gewesen sein!“ Er gab mir die Hand und sagte: „Erinnern Sie sich auch noch daran, wie sehr ich Unpünktlichkeit immer gehasst habe? Ich glaube, Sie waren doch nicht grundlos so in Eile?!“.

Ich schaute auf meine Uhr. „Verdammt! Zwanzig nach! Ich muss los!“ Ich nahm meine Ausrüstung vom Mäuerchen und drückte seinen Arm. „Ich hoffe, wir finden bald noch einmal die Gelegenheit, einen Kaffee zusammen zu trinken! Und vergessen Sie nicht, mich zu Ihrer Ausstellung einzuladen!“. Dann rannte ich los.

Rechtsanwalt Gerd Meister, Mönchengladbach


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